„Willst du meine Frau werden?“, fragte Navid.
Milla sog scharf die laue Abendluft ein. Es war einer der ersten Frühlingstage, und Navid war mit ihr auf den Teufelsberg gestiegen. Er stand hinter ihr und umfasste ihre Hände mit seinen großen feingliedrigen. Milla wiederum hielt die Schnur des Drachens, der hoch über ihnen schwebte. Wofür Navid sorgte, indem er ihre Bewegungen im Wind leitete.
„Willst du meine Frau werden und mit mir unter diesem unendlichen Himmel tanzen wie unser Drachen? Willst du mit mir durchs Leben fliegen? Willst du dich mir anvertrauen, wie wir unseren Drachen in den Wind stellen, der ihn trägt?“
Navid überließ die Schnur ihren Händen und trat vor sie, um sie anzuschauen. Zwischen ihren erhobenen Armen sah sie sein Gesicht: Seine dunkelbraunen Augen, deren warme Farbe jetzt einem harten Ebenholzton gewichen war, der von seiner Anspannung zeugte. Seinen dunklen Teint, seine schwarzbraunen Haare, die vom Wind verwuschelt einen weichen Kontrast zu seinem markanten Gesicht bildeten. Und seine geschwungenen Lippen. Vor ihrem inneren Auge sah sie sich selbst: hellbraunes Haar, im Sommer eher blond, Sommersprossen auf blasser Haut, einen Herzmund und ein spitzes Kinn. Und sie stellte sich eine Mischung von beidem vor.
„Ich bin schwanger“, platzte Milla heraus, und weil sie über diese Antwort selbst erschrak, hätte sie beinahe die Schnur losgelassen.
Im letzten Augenblick griff Navid wieder nach ihren Händen und umschloss sie. So standen sie sich gegenüber, mit zum Himmel erhobenen Armen, Hand in Hand, Brust an Brust, Aug in Aug, und der Drachen tanzte über ihnen im Wind.
„Wirklich?“, fragte Navid, und seine Augenfarbe wechselte wieder zu dem weichen Braun, das für Milla zur Farbe der Liebe geworden war.
„Ja“, sagte sie und verspürte Erleichterung, dass es ihr herausgerutscht war und sie nicht im Stillen für sich entschieden hatte, ob sie das Kind zur Welt bringen würde oder nicht. Die Erleichterung zeigte ihr, dass es richtig war, sich Navid anzuvertrauen. Deshalb sagte sie noch einmal, bestimmter: „Ja.“
Er ließ ihre Hände los, umfasste ihre Taille, wirbelte sie jubelnd herum, und der Drachen trudelte in einem halsbrecherischen Kreis am Himmel um sie, bis Navid Milla wieder auf dem Boden absetzte und ihn einholte.
„Es ist ein bisschen früh“, sagte Milla, nachdem sie den Drachen weggelegt hatten und aneinandergelehnt auf ihrer Picknickdecke saßen.
„Für mich nicht“, sagte Navid schlicht.
Milla glaubte es ihm. Navid war vor sechseinhalb Jahren als Fünfzehnjähriger aus Kundus geflüchtet. In der Woche davor waren seine Eltern und seine drei Geschwister von den Taliban hingemetzelt worden, dazu die Familie seines Onkels und die Großeltern. Navid war als Einziger davongekommen, weil er nicht zu Hause gewesen war und sich verstecken konnte. Er hatte die geschändeten, abgestochenen, enthaupteten oder von Kugeln durchsiebten Verwandten begraben und war losgezogen. Navid hatte so viele Tote zu beklagen, dass ein neu entstehendes Leben für ihn der Himmel auf Erden sein musste. Auch wenn sie beide erst einundzwanzig waren, Navid fast zweiundzwanzig. Er hatte gerade seine Ausbildung zum Physiotherapeuten beendet und in diesem Monat seine erste Stelle in einer kleinen Praxis angetreten.
Für ihn ist alles ganz einfach, dachte Milla. Geld verdienen, Frau, Kind, fertig. Sie dagegen machte sich tausend Sorgen, seit sie am Vorabend einen Schwangerschaftstest gemacht hatte, weil ihre Periode ausgeblieben war. Er war ihre erste richtige Liebe – und sie seine. Konnte das gutgehen? Waren sie nicht viel zu jung? Sie studierte Siedlungswasserwirtschaft, und weil es ein duales Studium war, arbeitete sie gleichzeitig bei den Berliner Wasserbetrieben. Und dann ihre Mutter, die nicht müde wurde zu sagen, dass die erste Liebe nun mal schiefgehe, die sei viel zu romantikbeladen. Sie wartete nur darauf, dass Milla Navid den Laufpass gab. Wie sollte da ein Baby reinpassen?
„Du machst dir Sorgen, nicht wahr?“, Navid zog sie enger an sich.
„Was wird aus meinem Studium?“, fragte Milla.
„Ich arbeite nur fünf Tage die Woche“, sagte Navid. „Die in der Praxis freuen sich riesig, wenn ich die Spätschichten übernehme und keine einzige frühe will, weil du dann in der Hochschule bist oder bei den Wasserbetrieben.“
„Und meine Mutter …“
„Ja“, sagte Navid und schaute in die untergehende Sonne. „Das müssen wir in Angriff nehmen.“ Er zeigte auf den roten Ball, der im Westen den Horizont berührte, und streifte mit seinen Lippen genauso zart Millas Schläfe. „Ein Kind braucht eine glückliche Familie, um zu gedeihen. Deine Familie ist nicht glücklich. Jedenfalls nicht deine Mutter.“ Er wandte sich ihr nun ganz zu. „Ich wünsche mir eine glückliche Familie. Nichts mehr als das.“
Wieso sollte ihre Mutter nicht glücklich sein? Merkwürdig, dachte Milla. Aber egal. Gedeihen. Lieber spürte sie diesem schönen altmodischen Wort nach. Navids Sprachlehrer nach seiner Ankunft in Deutschland war ein älterer Universitätsdozent gewesen, und Navids Deutsch wirkte deshalb manchmal etwas gestelzt. Ja, ihr Kind sollte gedeihen, unbedingt. Die Sonne küsste den Horizont nun heftiger, und Milla presste ihre Lippen ebenso auf Navids.
„Ich weiß, dass deine Mutter mich nicht will“, sagte Navid, als sie sich zwei Tage später nach Kreuzberg aufmachten, um mit Millas Mutter Jola zu Abend zu essen und ihr die Neuigkeit persönlich zu verkünden.
Milla ließ die Haltestange der U-Bahn los und strich ihm über den Arm. „Nimm es nicht persönlich. Sie meint es nicht so. Ich glaube, sie hat nichts gegen dich, nur gegen …“ Die Bahn ruckelte, weil sie in eine Kurve fuhr, und Mila fiel an Navids Brust.
Er legte schützend den Arm um sie. „Gegen uns.“
„‚Liebe ist Opium für das Volk‘ ist ihr Spruch. Frei nach Karl Marx.“
Navid schnaubte. „Na, das passt ja! Ich komme aus einem der Länder, die das feinste Opium überhaupt herstellen.“
Milla sah das Blitzen in seinen Augen und seufzte theatralisch. „Jaaa“, sagte sie so verrucht wie möglich. Dass es wohl nicht besonders verrucht geklungen hatte, sah sie an dem Lächeln, das über Navids Gesicht huschte.
Er wurde gleich wieder ernst und strich gedankenverloren über ihren Rücken. „Wie auch immer deine Mutter zu so einer traurigen Erkenntnis gelangt ist – die ist für eine Familie giftiger als Opium.“
„Ich habe es gut gehabt“, widersprach Milla. „Mama ist einfach unromantisch.“ Sie überlegte, wollte es nicht so negativ ausdrücken. „Pragmatisch eben.“
Navid sagte trocken: „Da habe ich ja Glück, dass ich meine Ausbildung fertig gemacht habe.“
Milla hob den Zeigefinger. „Und einen Job hast, vor allem.“
„Damit ich dich und das Kind ernähren kann.“
„Nee.“ Milla schüttelte energisch den Kopf. „Meine Mutter tickt anders. Damit du mir nicht auf dem Sofa in der Quere sitzt, würde sie sagen.“
„Das gefällt mir“, sagte Navid, gab ihr einen Kuss und schob die Hand unter ihre abgeschabte Lederjacke und das Shirt mit den Kräuselsäumen. Milla liebte romantische Klamotten und freute sich schon darauf, im Sommer Blümchenkleider zu tragen. Die Schwangerschaft würde man vermutlich erst im Herbst richtig sehen, und ihre zwei Lieblingskleider fielen locker. Um in ihnen nicht zu niedlich zu wirken, trug sie meistens ihre uralte „Kreuzbergjacke“ darüber. Die dunkelbraune Lederjacke besaß sie bereits seit ihrer Schulzeit. Auch klobige Schuhe mit dicken Plateausohlen trug sie. Mit ihnen war sie genauso groß wie Navid, nämlich knapp eins achtzig. Das war beim Küssen perfekt. Was sie auch gleich noch mal ausprobierte.
Als Navid ihre nackte Haut in der Taille kitzelte, biss sie ihn sanft in die Unterlippe und kniff ihn beherzt in den Hintern, was keiner sehen konnte, weil Navid an einer Trennwand lehnte. Sie beendete den Kuss, schaute an ihm vorbei mit gelangweiltem Blick zu einem Bildschirm, auf dem das Berliner Fenster irgendwelche Fußballergebnisse bekannt gab, und ließ ihre Hand wandern. Das war ihr U-Bahn-Sport: Übergriffig sein, ohne dass es auffiel.
Navid sog zischend die Luft ein und ließ auch seine Hand wandern, aber da mussten sie aussteigen.
„Ich hatte es richtig gut“, knüpfte Milla auf dem Weg zu Jolas Wohnung an das Gespräch in der U-Bahn an. „Es gab nie Elternkrach. Wenn Toni und Dirk sich gezofft haben, war Mama nicht beteiligt. Deshalb ging das an mir vorbei. Anders als bei meinen Freundinnen.“
Wider Erwarten lächelte Navid nicht. „Ich hätte deiner Mutter mal einen richtigen Streit gewünscht“, sagte er. „Wegen der Versöhnung.“ Er kniff die Augen zusammen und blickte in den Himmel, so wie er manchmal einen seiner selbst gebauten Drachen ansah. Milla nannte es seinen Heimwehblick. Als sei die Drachenschnur so lang, dass sie um die Erde herum viereinhalbtausend Kilometer bis nach Kundus reichte. „Wenn ein Paar sich versöhnt, na ja … dann gewinnt es irgendwie seine Liebe zurück“, sagte er stockend. „Meine Eltern wussten das, und so wie sie sich angeschaut haben, wenn sie sich nach einem Krach versöhnt haben, das war …“ Navids Stimme brach.
Milla schob ihre Hand in seine. Navids Eltern mussten sich sehr geliebt haben. „Das verstehe ich, glaube ich zumindest“, sagte sie sanft. „Und ich werde daran denken.“
„Hat deine Mutter denn die ganzen Jahre keinen Partner gehabt?“
Milla schürzte die Lippen. „Es ist irgendwie nie etwas draus geworden. Sie hatte hin und wieder mal einen Freund, hat aber nie einen mit nach Hause genommen. Sie pennte dann ein paar Wochen öfter aushäusig und war viel unterwegs. Toni hat es immer ihre ‚wilden Wochen‘ genannt. Ich hab diese Freunde höchstens beim Badengehen oder Eisessen kennengelernt. Zwei, drei waren dabei, die mochte ich gern, und einer war sogar ganz vernarrt in mich. Aber den hat Mama recht schnell abserviert.“
„Dabei ist deine Mutter wirklich eine schöne Frau. Du hast ihr dichtes Haar geerbt. Es ist genau wie deins, nur rötlicher.“ Er zog zärtlich daran, und als Milla nachgab und den Kopf nach hinten legte, mussten sie einander gleich wieder küssen.
Milla machte sich jedoch schnell los. „Komm, sie wartet bestimmt schon.“
Jola wohnte seit mehr als zwanzig Jahren am Chamissoplatz in einer Wohngemeinschaft mit Toni und Dirk, einem schwulen Pärchen. Sie teilten sich eine riesige Gründerzeitwohnung mit knarrendem Parkett, Balkon und Erker. In dem stand Jola und schaute in Erwartung ihrer Tochter und deren Freund hinunter. Ihr Blick schweifte über den Spielplatz, auf dem viel los war. Milla hatte schon als kleines Mädchen, wann immer sie wollte, dort spielen gehen dürfen, weil Jola ihr Umsicht auf der Straße zutraute wie ihre Eltern in ihrer Wolfener Wohnsiedlung seinerzeit ihr selbst.
Allerdings war Milla damals praktisch das einzige Kind gewesen, dessen Mutter nicht am Rand des Spielplatzes herumsaß, und auch heute hockten dort fast genauso viele Mütter, wie Kinder auf dem Platz tobten. Jola war Lebensmittelchemikerin und arbeitete ganztags in einem Labor, in dem die Zulassung neuer Produkte geprüft wurde. Wenn Milla aus der Schule gekommen war, waren entweder Toni oder Dirk da gewesen, die gemeinsam ein Steuerbüro betrieben und sich bis zu Millas Teenageralter nachmittags dort abgewechselt hatten. Jola hatte die beiden bei der Wohnungssuche kennengelernt, und sie hatten sich auf Anhieb verstanden und aus der Zwei-bis-drei-Zimmer-Wohnung, die das Pärchen und die schwangere Jola jeweils suchten, die aber Ende der Neunziger kaum zu bekommen gewesen war, eine Fünfzimmerwohnung gemacht.
Eine solche ergatterten sie am Chamissoplatz. Eine Win-win-win-Situation, wie Dirk immer sagte. Sie hatten Platz, und zwar bezahlbar. Toni und Dirk bekamen ein Kind und Jola gleich zwei Väter, die auf ihre Tochter aufpassten, wenn sie studieren und später arbeiten war. Im Kreuzberger Kinderladen störte sich kein Mensch daran, dass Milla im Wechsel von zwei schwulen Vätern und ihrer Mutter abgeholt wurde.
Jetzt sah Jola ihre Tochter mit ihrem Freund um die Ecke biegen. Er griff ihr ins Haar, und sie küssten sich. Das gab Jola einen Stich. Genauso hatte Raik damals ihre Haare … Stopp, befahl sie sich, ging in die Küche und kippte die Salatsauce über den Rucola, dass es spritzte. Aber es half nicht.
„Wir sind das Volk!“ Jola sah Raik an, der an ihrer Seite lief, und holte mit ihm zusammen tief Atem. „Wir sind das Volk!“, riefen sie mit allen anderen auf der Montagsdemo, blickten sich dabei in die Augen und rempelten aus Versehen die vor ihnen Laufenden an.
„Entschuldigung“, sagte Raik.
Jola kicherte.
Sie waren mit Raiks Vater Matthias nach Leipzig gefahren, zum Ärger von Jolas Mutter. Der geht jetzt die Muffe, dachte Jola kurz. Wenn die Leute hier wüssten, was meine Mutter macht, die würden mich lynchen. Aber es war ihr egal. Sie war dreizehn, genau wie Raik. Eigentlich war ihr auch die Montagsdemo egal. Nicht egal war ihr Raik.
Der Demonstrationszug stockte. Aus dem Augenwinkel sah Jola, wie aus einer Seitenstraße Polizisten gerannt kamen.
Raik griff nach ihrer Hand. „Weg!“, zischte er. Sein Vater hatte darauf bestanden, dass sie immer ganz am Rand des Zuges liefen, damit sie gegebenenfalls abhauen konnten. Im entstehenden Knäuel verloren sie Raiks Vater, aber Raik hielt Jolas Hand fest und entwischte mit ihr in eine andere Seitenstraße. Als ihnen auch dort Polizei entgegenkam, zog Raik Jola in einen Hauseingang, in den Flur, die Treppe hinauf bis ganz oben. Zwischen den Dachbodentüren ließen sie sich auf den Absatz plumpsen.
„Scheiße“, flüsterte Jola und horchte angstvoll.
„Finde ich nicht“, sagte Raik.
Sie sah ihn an, und selbst im Halbdunkel entdeckte sie die Grübchen, die immer erschienen, wenn er lächelte.
„Finde ich überhaupt nicht“, bekräftigte Raik, schob seine Hand in ihr Haar, wartete einen Augenblick.
Jola rührte sich nicht.
Da küsste Raik sie. Ganz zart. Lippen auf Lippen.
Jola rührte sich immer noch nicht. Mein erster Kuss, dachte sie überwältigt. Endlich.
Raiks Mund hatte sich nur Millimeter von ihrem entfernt. Er wartete. Sie reckte den Kopf vor, und ihre Lippen trafen sich erneut.
An diesem Abend in einem feuchtkalten Leipziger Treppenhaus brachten die beiden Teenager einander das Küssen bei. So ausgiebig, dass Raiks Vater, als sie endlich am Auto erschienen, wie es für den Notfall verabredet war, schimpfte und beim Einsteigen zitterte.
„Meine Mutter hätte uns schon rausgeholt“, sagte Jola, als sie zurück in ihre Siedlung fuhren.
„Dich bestimmt“, sagte Raiks Vater, holte Luft und schwieg dann.
„Raik auch.“, Jola griff nach dessen Hand.
Matthias schnaubte nur. „Hunger?“, fragte er und reichte gleichzeitig Käsebrote nach hinten.
Jola fand das nicht ganz fair, denn Matthias‘ neues Auto war ein Trabant, der von Bekannten, die sich in die Prager Botschaft der BRD abgesetzt hatten, einfach stehen gelassen worden war. Ihre Mutter hatte dafür gesorgt, dass er wegen des fingierten Kaufs keinen Ärger bekam, aus alter Freundschaft mit seiner Frau. Aber Jola sagte nichts, sie wollte Matthias nicht noch mehr gegen ihre Mutter aufbringen, auf die er seit Renates Tod nicht gut zu sprechen war.
Vier Tage später, als Jola nach der Schule und einem Abstecher in die Fuhneaue zwecks weiteren Kusstrainings nach Hause kam, standen drei Rucksäcke im Flur.
Ihre Mutter trat aus der Küche. Statt wie sonst Kostüm und Hauslatschen hatte sie eine sportliche Hose und Schnürschuhe an. „Zieh dich um“, sagte Agnes. „Liegt alles oben. Wir gehen in den Westen.“
„Wie bitte?“, rief Jola, aber da kam auch ihr Vater Franz aus der Küche.
„Diskussion im Auto. Ab jetzt.“
Jola stand da und konnte es nicht fassen. Ihre Mutter, die Personifizierung von „Schild und Schwert der Partei“, wollte abhauen. Es musste richtig schlimm stehen mit der DDR. Viel schlimmer als gedacht. Sie schaute ihrer Mutter in die Augen und sah Angst darin. Viel mehr Angst, als am Montagabend in den Augen von Raiks Vater gestanden hatte. Und diese Angst sorgte dafür, dass ihr die Widerworte im Hals stecken blieben.
Die Familie flüchtete über die grüne Grenze in Ungarn. Das Auto ließen sie an einem Feldrand stehen wie so viele andere vor ihnen auch. Herzklopfen, feuchte Hosenbeine vom Tau und ein paar Kratzer vom Huschen durch Brombeerhecken im Morgengrauen, dann kamen sie auf einer österreichischen Landstraße heraus.
Franz hatte eine Großtante in Berlin-Zehlendorf, die kinderlos und verwitwet war, ein Haus besaß und ihren Großneffen samt Familie aufnahm. Dort landete Jola mit ihren Eltern an einem regnerischen Abend Anfang Oktober. Sie bekam ein eigenes Zimmer, das die alte Hertha für sie hergerichtet hatte. „Willkommen in der freien Welt“, sagte sie, bevor sie Jola dort zum Auspacken allein ließ.
Aber Jola fühlte sich weggesperrt. Weggesperrt von Raik. Sie wusste, dass sie ihm nicht schreiben durfte. Das sei viel zu gefährlich für ihn, sagte ihre Mutter.
„Wir fangen jetzt ein neues Leben an. Denk nicht zu viel an das alte. Sonst fehlt dir die Kraft“, sagte Jolas Vater an einem der nächsten Abende beim Gutenachtsagen. „Sonst blutet dir das Herz aus.“
Dann umarmte er sie ganz fest, und Jola spürte, wie sein Herz blutete. Vielleicht hat er recht, dachte sie.
Die Kinder in ihrer neuen Zehlendorfer Schulklasse waren ganz anders als ihre Schulkameraden in Wolfen. Braver und gleichzeitig unbesonnener, irgendwie leichtherzig ging es zu. Wenn sie mit ihnen mithalten wollte, musste sie sich ganz und gar darauf einlassen. Ein Sonderling wollte sie nicht werden, ihr Anhaltisch war schon schlimm genug. Wie ihren Dialekt musste sie sich Wolfen abtrainieren und auch Raik. Sie hätte sich sonst teilen müssen in Ost und West, und das hätte sie nicht geschafft.
Hertha brachte Jolas Eltern im Zehlendorfer Schützenverein unter, in dem auch ihr Mann gewesen war. Franz und Agnes waren gute Schützen, er hatte das Schießen als Mitglied der Betriebskampfgruppe der Filmfabrik gelernt, sie in ihrer Ausbildung an der Hochschule für Staatssicherheit. Der gesellige Franz lebte sofort auf.
An dem Abend, als Jolas Eltern das zweite Mal im Verein waren und Jola verdrossen aus dem Küchenfenster starrte, trat Hertha zu ihr. Die alte Dame mit den wöchentlich frisch gelegten weißen Locken, reichlich Schmuck und stets manikürten Fingernägeln erzählte ihr von den Emigranten der Nazizeit, die sich umbrachten, obwohl sie es geschafft hatten zu fliehen. Klaus Mann, der aus dem alten Deutschland kam und im neuen nicht Fuß fassen konnte, Walter Benjamin, der schon in Spanien angekommen war. Stefan Zweig in Brasilien und Kurt Tucholsky in Schweden. Sie waren in Depressionen verfallen. „Man muss sich ganz auf das Neue einlassen“, sagte Hertha, „sich neu erfinden. Wir änderten nach 1945 die Dirndl der NS-Frauenschaft, färbten die Braunhemden. Wir trennten die Nazizeit von uns ab wie die Embleme von der Kleidung und wurden Demokraten. Alles halb so schlimm, wenn man nach vorn gucken kann. Und das kannst du.“
Jola nickte. Sie wollte nicht in Traurigkeit versinken. Sie sah aus dem Fenster auf das rote Dach gegenüber – rote Dächer waren früher das Zeichen für sie gewesen, dass es in die Ferien ging, denn in Wolfen und Umgebung waren sie rußschwarz – und schnitt ihre Vergangenheit ab. Bereits Ende Oktober hörte man ihr Anhaltisch kaum noch, und im Schutz einer Zehlendorfer Hecke küsste sie Torsten aus der Klasse über ihr im Bemühen, die Küsse des Ostens zu überdecken. Das gelang mehr schlecht als recht, aber Raik zu schreiben, schloss die Dreizehnjährige in einem letzten heftigen Anflug von romantischer Scham aus. Den Mauerfall zehn Tage später verbrachte sie konsequent hinter den Zehlendorfer Hecken.
Bastei Lübbe, Köln 2022
© Ulla Mothes
Roman: Flüchtiges Glück
Video-Lesung
Roman: Flüchtiges Glück
Video-Interview mit Ulla Mothes
Und je tiefer sie kam, desto gleißender wurde der Himmel, und das war noch nie so gewesen.
[ Seiltänzerin mittendrin ]
Köln, 2022
Bastei Lübbe
ISBN: 978-3-7857-2793-5
Agnes‘ Enkelin Milla wächst behütet in Berlin bei ihrer Mutter auf. Ihren Vater hat sie nie vermisst. Nun aber ist Milla schwanger, und ihr Freund drängt sie, ihren Wurzeln nachzuspüren. Verschwiegenes sickert in Generationen ein wie Gift, sagt er. Doch sein Ansinnen sorgt für Zwist: Millas Mutter will den Schmerz aus ihrer DDR-Vergangenheit nicht aufwühlen. Und ihre Großmutter Agnes weicht aus.
Als dann noch ein betrunkener alter Mann Milla angeht und behauptet, Millas Oma sei bei der Stasi gewesen und habe seine Frau auf dem Gewissen, erkennt Milla, dass sie in ein Wespennest gestochen hat. Was geschah damals wirklich?
Es war mir ein Bedürfnis, der Zerrissenheit von Menschen eine Stimme zu geben, die in der DDR vor der Frage standen: Verrate ich mich selbst, meine Ideale, meine Überzeugungen, oder liefere ich meine Familie und mich Repressionen aus? Der mit diesem Dilemma verbundene Schmerz hat für tragische Brüche bis weit in die Nachwendezeit hinein gesorgt – davon erzähle ich in „Flüchtiges Glück“. Mit tiefer Freude erfüllt mich, dass ich die Geschichte im Heute mit einem jungen Paar zu Ende gehen lassen darf, das in Freiheit lebt und ein offenes, heilendes Miteinander einfordert, in dem das Glück nicht flüchtig ist.
Ulla Mothes
Shortlist DELIA-Literaturpreis 2023
Ulla Mothes