Nora zeichnete einen Ast der großen Platane auf dem Schulhof in ihr Heft, weil sie dessen erstaunliche Farben mehr fesselten als der Unterricht. Cremeweiß und graugrün schraffierte sie die Rinde mit zarten Buntstiftstrichen. Es klingelte und Nora hatte Schulschluss, aber das hielt sie nicht davon ab, ihren Ast sorgfältig zu Ende zu zeichnen.
Anna kam armreifenklimpernd an ihrem Platz vorbei. „Was soll das denn sein?“, fragte sie blasiert.
„Ist er nicht gut gelungen?“, fragte Nora verunsichert zurück.
„Äste sind braun“, belehrte Anna sie ohne auch nur einen Blick auf die Platane vor dem Fenster zu werfen. Dann ging sie.
Zerstreut sammelte Nora ihre Stifte und Hefte ein. Immer wieder schaute sie dabei zum Geäst der Platane hinüber. Jeder konnte doch sehen, dass es cremeweiß und graugrün gescheckt war. Wieso würde Anna es braun malen? Verständnislos schulterte Nora ihren Rucksack.
Es passierte öfter, dass ihre Mitschüler wie heute längst weg waren, wenn Nora von der Schule zur Bushaltestelle zockelte. Nora war ein dickes, eigenbrötlerisches Mädchen und wurde selten gefragt, ob sie mitwollte. Gedanken über das Zeichnen von Platanenrinde interessierten sonst niemanden aus ihrer Klasse.
Jetzt hörte sie neben sich hinter der Hecke eine trotzige Jungenstimme. „Ich gebe sie euch nicht!“
„Natürlich. Oder soll dich deine Mami heute fragen, wo du deine zerhauene Nase her hast?“
Nora stockte der Fuß. Die zweite Stimme hatte ganz ruhig geklungen. So, als ob sie Deutschhausaufgaben vorlas.
„Nein!“, rief die erste Stimme und schnappte dabei über.
Dann war ein Schrei zu hören. Ein kurzer, nicht lauter Schrei und ein Plumps.
Nora überlief eine Gänsehaut. Die Drohung war in tiefer Tonlage erfolgt. Sie musste von einem großen Jungen ausgesprochen worden sein. Vorsichtshalber ging sie ein paar Schritte weiter.
Nora war erst in der sechsten Klasse und gehörte zu den Kleinen in der Schule. Diese schreckliche, ruhige Stimme und dann der Schrei – Nora zögerte. Dann schlich sie neugierig den Weg zurück. Ich könnte ja meinen besten Bleistift verloren haben und deshalb hier herumsuchen, dachte sie sich als Ausrede aus, während sie zittrig ein paar Zweige zur Seite schob.
Ihren besten Bleistift hätte sie allerdings nirgends liegen lassen. Er hatte eine ganz weiche Mine, mit der sie Schatten auf die Gesichter wischen konnte, wenn sie in der Stunde Lehrer zeichnete. Wenn Nora auch sonst kaum Beachtung fand, sie war in ihrer Klasse berühmt dafür, wie gut sie Gesichter traf.
So sehr sie jetzt versuchte die Hecke mit ihren Blicken zu durchdringen, das Buschwerk war zu dicht, um sehen zu können, was sich dahinter abspielte. Keuchte da nicht jemand? Sie lauschte und hörte Füße über den Boden scharren, sonst nichts mehr. Zu gern wollte sie erfahren, was hinter der Hecke passierte. Aber ihr Bauch fühlte sich vor Angst ganz hohl an. Dem großen Jungen mit der bedrohlich ruhigen Stimme mochte sie lieber nicht in den Weg geraten.
In diesem Augenblick ratterte ihr Bus um die Kurve. Das brachte Nora auf eine Idee. Sie rannte die paar Meter bis zur Haltestelle. Im Bus stürmte sie sofort auf das Oberdeck. Außer Atem spähte sie aus dem Fenster. Tatsächlich, sie konnte über die Hecke blicken. Auf dem Parkplatz dahinter drückte ein Schüler aus der achten Klasse einen zappelnden Jungen aus ihrer Parallelklasse auf den Boden und hielt ihm den Mund zu. Ein zweiter Achtklässler zog dem aus der 6 b gerade die Turnschuhe von den Füßen. Der Junge wehrte sich, aber gegen die beiden Großen konnte er nichts ausrichten.
Nora ließ sich auf einen Sitz plumpsen und verschnaufte. Rundlich, wie sie war, konnte sie nicht besonders gut rennen. Im Sport wurde sie deshalb manchmal gehänselt.
Hundert Meter weiter hielt der Bus an einer Ampel und Nora drehte sich um. Eine Gestalt kam mit hängendem Kopf und schleppenden Schritten auf Socken hinter der Hecke hervor. Von den großen Jungen war nichts zu sehen.
Nora musste bei dem Anblick schlucken. Doch das Entsetzen über diesen gemeinen und feigen Diebstahl ließ sich nicht hinunterwürgen. Sie brauchte ein Beweisstück. Ihr kam ein Einfall. Sie zog ihr Geometrieheft aus der Schultasche und skizzierte, was sie gesehen hatte. Die Gesichter der großen Jungen zeichnete sie besonders genau. Man sollte sie nach dem Bild erkennen können. Während des Zeichnens wurde ihr gleich ein bisschen besser.
Nora selbst kannte die Diebe nur vom Sehen auf dem Schulhof. Sie waren in der 8. Klasse von Herrn Kröger. Bevor sie aussteigen musste, schrieb sie noch schnell das Datum und die Uhrzeit unter das Bild: 20.9., 13.45 Uhr. Damit haben die nicht gerechnet, dachte sie zufrieden.
Zu Hause angekommen, rief Nora gleich ihre Freundin Lilli an, um ihr Erlebnis zu erzählen. Aber Lilli unterbrach sie: „Kann ich nicht bei dir vorbeikommen? Mama hat Raukesalat gemacht und der ist so eklig bitter. Ich hab’ gesagt, dass ich keinen Hunger habe.“
„Klar.“ Nora freute sich und lief in die Küche, um etwas Leckeres für Lilli auszusuchen. Lilli kam oft nach der Schule zu ihr, weil Nora sich zu essen machen durfte, was sie wollte. Ihre Mutter arbeitete bis weit in den Nachmittag hinein und niemals musste Nora Gemüseeintopf oder Salat essen wie Lilli. Es war immer Pizza im Tiefkühlfach oder sie kochte sich Nudeln oder tat vorgefertigte Kartoffelpuffer in die Backröhre.
Heute machte Nora Pommes frites. Lilli nahm sich einen Klecks Ketchup, Nora einen Klecks Ketchup und drei Löffel Majonäse. Nora aß sehr, sehr gern und am liebsten viel. Im Gegensatz zu Noras Fülle wirkte Lilli wie das Porzellan, das Noras Mutter besaß: Fast so durchsichtig wie Glas, so dünn schien sie.
Nora hatte einmal versucht, Lillis lange Locken zu malen, und sie hatte einen großen Tupfer Weiß in das Gelb geben müssen, um die Farbe hinzubekommen. Noras Haare waren braun, dick wie alles an ihr und glatt. In letzter Zeit wurden sie schnell strähnig und gefielen Nora deshalb immer weniger.
Lilli wusch sich ihre Haare neuerdings täglich und jetzt sagte sie mit einem Blick auf Noras Majonäsebatzen unsicher: „Willst du eigentlich immer so pummelig bleiben?“
„Darüber habe ich noch nicht nachgedacht“, antwortete Nora. Die Wahrheit war, dass sie davor fürchtete, darüber nachzudenken.
Jetzt musste sie Lilli jedenfalls unbedingt von ihrem Erlebnis an der Bushaltestelle berichten. Mit vollem Mund erzählte sie ihrer Freundin, was sie beobachtet hatte.
„Eins verstehe ich nicht“, meinte Nora zum Abschluss. „Wozu brauchen die eigentlich die Schuhe? Die sind denen doch viel zu klein.“
„Vielleicht wollen sie die Schuhe verkaufen“, mutmaßte Lilli.
Nora zog zweifelnd die Augenbrauen zusammen.
„Bei uns in der Nähe ist ein Second Hand für Kindersachen. Meine Mutter bringt manchmal Sachen hin. Viel kriegt man dafür allerdings nicht, hat sie gesagt“, erklärte Lilli.
„Für nichts ist nicht viel immerhin etwas“, zitierte Nora ihre Mutter, die sparsam lebte, und nahm sich noch einmal Pommes frites. Pfatsch, machte die Majonäse, als sie einen großen Löffel voll aus dem Glas holte.
„Weißt du was? Morgen in der ersten Hofpause reden wir mit dem aus der 6 b. Die kommen uns nicht davon.“
„Abgemacht“, stimmte Lilli zu. Sie langte nach einem limettengrünen Bonbon in dem großen Glas auf der Arbeitsplatte. Lillis Mutter war der Meinung, dass Süßigkeiten schädlich seien. Noras Mutter dagegen füllte das Glas immer auf, wenn es leer war, und Nora brachte Lilli oft eine Leckerei in die Schule mit.
Am nächsten Tag hakte sich Lilli auf dem Weg zur Hofpause bei Nora ein. Gemeinsam traten sie vor die Schultür und Nora ließ suchende Blicke nach dem Jungen aus der 6b über den Hof schweifen.
Zuerst fielen ihr jedoch die beiden großen Schüler von gestern ins Auge. Der eine stand vor der Turnhalle, während der andere mit einer Tüte in dem verdreckten Gang dahinter verschwand. An dieser Stelle schloss sich an den Schulhof eine ungepflegte Parkanlage an.
Lillis Stimme drang an ihr Ohr. „Komm, wir schauen bei den Tischtennisplatten nach. Da stehen unsere Jungen auch immer.“
„Okay“, antwortete Nora, während ihr blonde Locken ins Gesicht klatschten, die Lilli gerade geschäftig zurückgeworfen hatte. Sie stolperte Lilli hinterher.
Doch ihre Beobachtung ließ Nora keine Ruhe. Was wollte der Junge in dem verschwiegenen Gang hinter der Turnhalle? Nora drehte sich um. Eben kam der Junge wieder hervor. Die Tüte hatte er nicht mehr bei sich. Er steckte ein rosafarbenes Papier in seine hintere Hosentasche und machte Herrn Kröger, der sich bei der Hofaufsicht langweilte, ein Handzeichen. Daraufhin drehte sich der Lehrer schnell weg, was gar nicht zu seinem gelangweilten Aussehen eben noch passte. Es sah so aus, als wolle er das Zeichen nicht sehen.
Die Jungen schlenderten in die entgegengesetzte Richtung davon. Der, der das Papier eingesteckt hatte, grinste zufrieden.
„Was starrst du denn den Kröger an? Komm jetzt.“ Lilli zog Nora ungeduldig fort. „So lang ist die Pause nicht. Ich will noch zu den Stangen.“
Verwirrt ließ sich Nora mitziehen.
An den Tischtennisplatten hatten sie Glück. Der Junge aus der 6 b balancierte auf einer Steinkante. Neugierig schaute Nora auf seine Füße. Sie steckten in Lederslippern, die vom großen Zeh ausgebeult wurden.
„He, du“, rief Lilli. „Wie heißt du?“
„Ich?“, fragte der Junge erstaunt. „Tim.“
„Ich habe gesehen, was gestern passiert ist“, sagte Nora.
„Wir finden das gemein und wollen dir helfen“, fügte Lilli hinzu und legte einen Arm um Noras Schulter. Nora freute sich, denn sie merkte, dass Lilli stolz auf sie war.
Tim bekam große Augen. „Das ... das war nur Spaß. Das ist ein Geheimnis.“
„Was?“ Nora verstand gar nichts.
„Das war nur so.“ Tim warf gehetzte Blicke um sich.
Lilli nahm den Arm von Noras Schulter.
„Und wieso hast du dann deine Turnschuhe nicht wieder? Und es soll Spaß sein, auf Socken nach Hause zu laufen?“, fragte Nora ungläubig.
„Es ... war eine Wette. Die habe ich eben verloren“, sagte der Junge schnell. „Kümmert euch um eure Sachen.“ Damit wandte er sich ab.
„Sag mal Lilli, verstehst du das?“, fragte Nora verdattert.
„Kann es sein, dass du ein bisschen übertrieben hast?“, fragte Lilli zurück.
Es klingelte.
„Komm, wir gehen rein. Aber in der nächsten Pause spiele ich an den Stangen“, sagte Lilli. Sie klang unzufrieden.
Nora fühlte sich blamiert. Das Luftholen ging auf einmal schwer. Warum log Tim sie einfach an? Sie konnte es nicht fassen. Nie und nimmer war das auf dem Parkplatz gestern eine Wette gewesen oder gar nur ein Spaß. Wie mechanisch lief sie hinter Lilli her. Da schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf: Tim hatte Angst! Natürlich, die großen Jungen hatten ihm etwas angedroht, falls er sie verraten würde.
Unwillkürlich fiel Nora wieder ein, wie der eine von ihnen aus der Ecke gekommen war und zufrieden ein rosafarbenes Papier hinten in seine Hosentasche gesteckt hatte. Damit konnte Nora überhaupt nichts anfangen. Aber irgendetwas daran war komisch. Sie wollte herausfinden, was. Und vor allem wollte sie nicht, dass dieser Junge zufrieden aussah.
In der nächsten Stunde riss Nora eine weitere Seite aus ihrem Geometrieheft und legte sie unauffällig in ihren Erdkundehefter. Statt den Donaulauf von der Karte ins Heft zu übertragen, zeichnete sie zwei Bilder auf das weiße Blatt.
Zuerst den Jungen mit der Tüte, sorgfältig strichelte Nora runde Beulen in den Beutel. Es waren größere Gegenstände darin gewesen. Der Junge, der an der Turnhallenwand gelehnt hatte, sah mit seinem unruhigen Blick auf ihrem Bild so aus, als stehe er Schmiere. Die Jungen ohne Tüte, von denen einer ein rosafarbenes Stück Papier in der Gesäßtasche verschwinden ließ und ein Handzeichen machte, zeichnete Nora als Zweites auf das Blatt.
Auch Herrn Kröger vergaß sie nicht, der sich mit einem unwilligen Gesichtsausdruck abwandte. Nora konnte Herrn Kröger nicht leiden. Gerade hatten sie bei ihm Erdkunde und er rief sie nie auf, wie oft sie sich auch meldete. Wie immer glänzte Gel in seinen Haaren, obwohl er bestimmt schon Mitte dreißig war. Er trug weite Hosen mit vielen Taschen wie seine Schüler aus der Achten und sein lässiger Schritt sah genauso aus wie der der Jungen, die sich besonders cool fanden.
Unter ihre Zeichnung schrieb Nora: 21.9., 9.40 Uhr und 21.9., 9.42 Uhr.
Der Lehrer näherte sich ihrem Platz, während Nora auf ihre Zeichnung starrte. Sie verbarg ein Geheimnis, ganz bestimmt. Unsanft wurde sie aus ihren Gedanken gerissen, als Lilli sie anstieß. Im letzten Moment konnte Nora das Blatt verschwinden lassen. Herr Kröger war ihr sehr gut gelungen und sie hatte noch nie erlebt, dass Lehrer begeistert waren, wenn sie von einem Schüler gezeichnet wurden. Dankbar blinzelte Nora ihrer Banknachbarin zu.
Gleich darauf klingelte es zur Pause und Nora fragte Lilli: „Wollen wir zu Frau Spieker gehen? Ich finde, wir sollten ihr sagen, was gestern passiert ist.“ Frau Spieker war ihre Klassenlehrerin.
Lilli war nicht begeistert. „Ich will aber zu den Stangen. Und vielleicht war es wirklich nur eine Wette. Dann werden wir schön ausgelacht.“
Nora blieb enttäuscht ein paar Schritte hinter den anderen Mädchen zurück. Sie hasste die Stangen, an denen die meisten Mädchen aus ihrer Klasse gerade so gern herumturnten, auch wenn sie es nie offen zugegeben hätte. Außer der kleinen Kirsten war es nur Nora noch nie gelungen, mit Schwung eine Scherenrolle ganz herum zu schaffen. Sie blieb immer unten hängen.
„Dann gehe ich eben allein“, rief Nora unwillig.
„Komm lieber mit uns mit“, gab Lilli leichthin zurück und sprang mit Anna auf die Stangen zu. Aber Nora ging nicht hinterher. Sie machte einen Abstecher hinter die Turnhalle. Sie wollte wissen, was in der Tüte war. Sie musste dort liegen. Doch im Unkraut in dem schmalen Gang zwischen Turnhalle und Zaun lag keine Tüte.
Nora ließ ihren Blick weiter schweifen. Hinter dem Zaun wucherte Gestrüpp. Darin hatte sich die Tüte verfangen. Leer wehte sie im Wind. An ein paar frisch abgebrochenen Zweigen am Rand eines Trampelpfades, der am Schulzaun endete, begannen die Blätter zu welken. Auf der anderen Seite musste vor kurzem jemand gewesen sein.
„Was suchst du hier? Scher dich weg.“ Auf einmal stand Herr Kröger hinter ihr. „Schüler haben in dieser Ecke nichts zu suchen“, sagte er barsch.
Vor Staunen blieb Nora der Mund offen stehen. Warum sagte Herr Kröger das zu ihr? Die beiden Jungen aus seiner Klasse hatte er doch auch gesehen und nicht gerügt. Im Gegenteil, hatten sie ihm nicht sogar ein Zeichen gegeben?
Nora fand das ungerecht und setzte zu einer Entgegnung an, doch Herr Kröger schob sie schnell aus dem schmalen Gang und ließ sie einfach stehen. Mit großen Schritten überquerte er den Hof.
Er kann mich einfach nicht leiden, dieser gegelte Affe, dachte Nora. Sie blieb stehen und wickelte energisch ihr letztes Pausenbrot aus. Das Pausenbrot war immer viel zu schnell alle.
Was wohl in der Tüte gewesen war? Vielleicht am Ende gar Tims Turnschuhe! Noras Brot schwebte vor ihrem erstaunt geöffneten Mund. Natürlich, die beiden Jungen hatten sie am Zaun verhökert. Das rosafarbene Papier war ein Zehneuroschein gewesen. Das war des Rätsels Lösung, dass sie nicht gleich darauf gekommen war; Nora biss zufrieden in ihr Brot.
Herr Kröger hätte lieber auf die beiden Großen aufpassen sollen als auf sie. Komisch, dass er die Jungen nicht dort weggescheucht hatte. Nora kaute den nächsten Bissen ausgiebig.
Ihre Gedanken kehrten zu Tim zurück. Er hatte eindeutig gelogen. Nora stopfte sich den Rest der Schnitte in den Mund. Sie musste unbedingt Lilli berichten, was sie herausgefunden hatte. Dann konnte sie nicht mehr denken, sie hätte übertrieben.
Nora knüllte das Brotpapier zusammen und folgte Lilli zu den Stangen.
Lilli und Anna rollten in einer Schnelligkeit herum, bei der Nora schon vom Hinsehen schwindlig wurde. Sie stellte sich neben Kirsten an die Seite und wartete. Kirsten sah genau zu, wie Lilli und Anna sich an der Stange hielten. Ihre Hände waren dabei zu Fäusten geballt, als würde sie sich selber drehen.
Lillis Locken wirbelten jedes Mal Staub auf, wenn sie am Boden vorbeiwehten. Anna gab auf. „Sieben-acht-neun-zehn“, zählte ein anderes Mädchen aus ihrer Klasse weiter.
„Uff“, machte Lilli und hielt oben an. Ihre Lockenpracht schwang herunter.
„Toll“, sagte Anna griesgrämig. „Und dir ist gar nicht schwindlig?“
„Kein bisschen“, entgegnete Lilli und sprang von der Stange.
„Lilli, das war keine Wette mit Tim.“ Nora musste ihre Neuigkeit gleich loswerden.
„Ach komm, wenn er es sagt“, keuchte Lilli und hielt den Kopf nach unten.
„Dir ist doch schwindlig, nicht?“, flüsterte Nora ihr liebevoll zu und zog ihre Trinkflasche für Lilli aus der Tasche. „Danach ist dir besser.“
Lilli trank in großen Schlucken. Während Nora erzählte, was sie erkundet hatte, schielte Lilli schon wieder zu den Stangen.
Nora folgte mit Unwillen ihrem Blick. „Wir können ja bis Montag warten. Wenn Tim die Turnschuhe bis dahin nicht wiederhat, gehen wir aber zu Frau Spieker.“
Lilli nickte und bat: „Komm, Nora, versuch 's auch. Es macht solchen Spaß.“
Aber Nora hatte Angst, sich schon wieder zu blamieren. „Ich kann das nicht. Mir ist schon vom Zusehen übel“, wehrte sie ab.
„Ich drücke dich rum.“
Nora fing Annas siegesgewisses Grinsen auf. „Nein, danke. Ich gucke zu“, stammelte sie hilflos.
Da zog sich Kirsten an der Stange hoch und ließ sich von einem anderen Mädchen anschubsen. Sie schaffte es zwar nicht ganz herum, aber es sah schon viel besser aus als die Tage davor.
Nora zog ihre Hose hoch, die über ihr Bäuchlein nach unten gerutscht war. Im Sportunterricht hatte sie beim Geräteturnen immer das Gefühl, ihr Leib würde in alle Richtungen auseinander fließen, vor allem in die Richtung, in der es nach unten ging. An Stangen rutschte sie ständig ab.
„Lilli, machen wir es noch mal?“, rief Anna. „Diesmal schaffe ich auch zehn.“
„Okay.“ Lilli gab Nora die Flasche zurück.
Doch jetzt klingelte es. Alle Mädchen schwangen sich unter der Stange durch, Nora als Letzte. Sie kam nicht besonders hoch dabei. Nicht mal so hoch wie die kleine Kirsten. Nora fühlte sich ganz verlassen, und das, obwohl sie gerade zwei Räubern hart auf den Fersen war. Wenigstens waren die anderen schon ein Stück weg und hatten ihren kläglichen Schwung nicht gesehen.
Schenk Verlag, Passau 2008
© Ulla Mothes
Und je tiefer sie kam, desto gleißender wurde der Himmel, und das war noch nie so gewesen.
[ Seiltänzerin mittendrin ]
Passau, 2008
Schenk Verlag
ISBN: 978-3-939337-47-8
Unsichtbar geht Angst um in der Schule. Nur Nora nimmt es mit zwei brutalen Dieben auf. Die sorgen dafür, dass das dicke Mädchen gemobbt wird, sogar von ihrer besten Freundin Lilli.
Doch sie unterschätzen die Entschlossenheit Noras. Denn Nora will ihre Freundin Lilli zurück!
Eine dramatische Freundschaftsgeschichte im rauen Überlebenskampf auf dem Schulhof bildet den Mittelpunkt dieses spannenden Krimis.
Ulla Mothes