Am liebsten hätte Rafael sein Matheheft zwischen den Comics, einem Lego-Auto und dem selbst geschnitzten Pfeil übersehen. Er saß an seinem Schreibtisch, um Hausaufgaben zu machen. Zwei Lösungen hatte er schon aufgeschrieben, es fehlten noch sechzehn. Seit kurzem teilten sie in der Schule Zahlen schriftlich.
Seine Mutter hatte sich bei der ersten Rechnung über ihn gebeugt und geschimpft, weil er seine fix hingeschriebene Aufgabe beim Ausrechnen nicht mehr lesen konnte. Er musste noch einmal anfangen. Aber sie schrieb doch auch so schnell, vielleicht sogar noch schneller. Wieso konnte man ihre Zahlen lesen und warum sollte er langsamer schreiben? Rafael wollte nicht langsamer schreiben als seine Mutter. Er war immerhin schon neun und in der vierten Klasse.
Neben seinem Heft hatte er sein Lego-Auto geparkt. Er hatte es gestern gebaut, was fast den ganzen Nachmittag gedauert hatte. Es hatte eine bewegliche Vorderachse, einen Rückziehmotor und einen Heckspoiler. Rafael ließ es über das Heft rollen. Dabei riss eine Seite leicht ein. Er schob das Fahrzeug an die nächste Aufgabe und rechnete sie in einzelnen Teilungsschritten aus, die immer untereinander geschrieben wurden. Die Zwischenrechnungen zogen sich durch die Kästchen wie ein holpriger Abhang. Er ließ das Auto über die feuchte Tinte fahren. Ein Stück weiter machte das Reifenprofil einen blauen Abdruck ins Heft.
„Bist du fertig mit Mathe?“, rief seine Mutter aus dem Bad.
„Noch nicht“, gab Rafael zurück und stellte schnell das Auto zur Seite. Aber seine Mutter kam nicht herein.
Rafaels Blick schweifte zum Fenster. Auf der gleichen Etage im Mietshaus gegenüber wohnte auch ein Junge. Er hieß Lars. Seine Arme hingen beim Gehen immer herunter, als gehörten sie nicht zu ihm. Mit Lars hatte Rafael nie etwas zu tun gehabt, er ging auf eine andere Schule. Die Kinder aus der Umgebung hänselten ihn. Lars schoss beim Fußball auf jedes Tor, in dessen Nähe er kam, auch wenn es das der eigenen Mannschaft war. Rafael verstand nicht, warum er das tat. Die, die ihn hänselten, meinten, er wäre zu blöd, sich das richtige Tor zu merken.
Rafael und Lars konnten einander in die Fenster sehen. Zumindest im Winter oder jetzt im Frühjahr, wo die Straßenbäume erst zarte Blattknospen hatten. Rafael beobachtete, wie Lars ebenfalls am Tisch saß und mit den Fingern rechnete. Mal rechnete er mit der linken Hand und stützte den Kopf auf die rechte, dann wechselte er. Lars rechnete unermüdlich. Was er wohl aufhatte?
Rafael ging zum Regal und holte das Fernglas heraus. Er schob den Stuhl neben das Fenster, stellte sich darauf und richtete das Fernglas hinter der Gardine versteckt auf das Haus gegenüber. So konnte er auf Lars' Tisch gucken. Hatte Lars nicht die gleiche Seite im Mathebuch aufgeschlagen wie er? Rafael stellte das Glas noch schärfer ein. Tatsächlich, oben rechts zerschnippelte der Saurier, der fast auf jeder Seite auftauchte, eine Ziffernfolge und in der Mitte war eine Bilderleiste. Ob Lars vielleicht sogar dieselbe Aufgabe lösen musste?
Rafael versuchte zu erkennen, was Lars in sein Heft schrieb, aber er konnte nur sehen, dass die Seite schon ziemlich voll geschrieben war. Er beschloss, mit Lars Kontakt aufzunehmen. Dazu stieg er vom Stuhl, holte seine Taschenlampe und blinkte mit ihr nach draußen. Aber die Sonne schien und Lars rührte sich nicht. Rafael überlegte. Dann fiel ihm etwas Besseres ein.
Er horchte. Seine Mutter schien nicht mehr nebenan im Bad zu sein. Möglichst leise ging er hinüber, öffnete den Spiegelschrank und kramte in ihrem Schminktäschchen. Mit einem kleinen Spiegel kehrte er zurück an sein Fenster. Er öffnete es, fing die Sonne ein und lenkte einen Lichtfleck auf Lars' Augen. Der blinzelte und rückte ein Stück zur Seite. Rafael lenkte den Lichtfleck hinterher. Lars blinzelte wieder und senkte den Kopf. Jetzt versuchte Rafael, den Lichtfleck auf dem Heft tanzen zu lassen. Das war gar nicht so einfach. Er lenkte ihn auf die Hand, mit deren Fingern Lars rechnete. Lars nahm die Hand ein Stück zur Seite und Rafael folgte mit dem Licht. Gerade als Rafael dachte, dass Lars wirklich ziemlich schwer von Begriff war, weil er nicht bemerkte, dass dieser Lichtfleck gesteuert wurde, sah er auf.
Rafael winkte mit dem Spiegel. Er sah, wie Lars drüben aufstand und zum Fenster ging. Lars guckte ziemlich böse und griff nach der Gardine. Schnell nahm Rafael sein Mathebuch vom Tisch und hielt es aufgeschlagen hoch. Lars stutzte. Rafael legte das Buch auf den Tisch und hielt sein Heft hoch. Er sah, wie Lars die Augenbrauen zusammenzog. Natürlich, dachte Rafael, die Zahlen sind viel zu klein. Ich kann ja von hier aus auch nicht lesen, was Lars schreibt. Also schlug er die letzte Seite seines Matheheftes auf und schrieb mit dickem Filzstift: S. 23, Nr. 4 a-f.
Er hielt das Heft hoch. Drüben nickte Lars heftig. Volltreffer, freute sich Rafael. Dann schrieb er darunter: Lars: a-c, Rafael: d-f.
Rafael hielt das Heft erneut hoch. Am Fenster gegenüber nickte Lars wieder kräftig. Rafael zeigte eine Faust mit dem Daumen nach oben, schloss das Fenster und setzte sich an den Tisch. Jetzt rechnete er, so schnell er konnte, denn er wollte nicht länger brauchen als Lars. Auch Lars hatte sich wieder an seinen Tisch gesetzt. Als Rafael fertig war, sah er Lars immer noch konzentriert arbeiten. Zufrieden nahm er ein Blatt und schrieb darauf: d) 786, 244, 952; e) 532, 444, 196; f) 807, 697, 318.
Er öffnete sein Fenster und ließ das Lego-Auto auf dem Fensterbrett hin und her fahren. Wenig später war auch Lars fertig. Rafael zeigte ihm sein Blatt. Lars schrieb die Zahlen ab. Dann sah Rafael, dass auch Lars ein Blatt mit dickem Filzstift beschrieb. Er hielt es hoch und Rafael übertrug nun seinerseits die Lösungen von a bis c. Bei den beiden schon von ihm selbst ausgerechneten Aufgaben hatte Lars ein anderes Ergebnis herausbekommen als er. Aber das war ihm ebenso egal wie die Tatsache, dass der Lösungsweg bei allen übrigen fehlte. Hauptsache, er war fertig.
Als er die fehlenden Zahlen eingetragen hatte, stand Lars noch immer am Fenster. Unschlüssig schaute Rafael hinüber. Lars guckte erwartungsvoll zurück. Wie alle Jungen hatte Rafael bis jetzt immer einen Bogen um Lars gemacht. Auf dem großen Bolz- und Spielplatz ganz in der Nähe beschäftigte sich Lars meistens allein. Manchmal summte er dabei vor sich hin oder redete mit sich selbst. Oft baute er Sandburgen wie ein Kleinkind. Die waren allerdings sehr kunstvoll, mit filigranen Brücken und Zinnen. Rafaels Spielkameraden lachten darüber und zertraten sie. Eigentlich fand Rafael das ziemlich gemein. Ihm gefielen Lars’ Bauwerke. Aber er schwieg dazu. Er wollte es sich mit seinen Freunden nicht verderben.
Jetzt machte Lars ein Zeichen, dass Rafael warten solle, und verschwand. Kurze Zeit später kam er zurück und hielt zwei Federballschläger in der Hand. Rafael konnte nicht besonders gut Federball spielen, aber ablehnen ging wohl nicht. Und mit Lars auf dem Fußballplatz zu erscheinen, kam schließlich nicht infrage. Die anderen würden ihn auslachen. Also nickte er und schloss das Fenster. Dann rief er durch die Wohnung: „Mama, ich gehe rüber zu Lars, wir spielen Federball.“
Seine Mutter betrat sein Zimmer. „Wer ist Lars? Hast du Mathe fertig?“ Nach einem Blick auf sein Heft stöhnte sie. „Wenn ich deine Lehrerin wäre, würde ich dich alles noch einmal schreiben lassen. Das Geschmiere kann doch kein Mensch lesen.“
Rafael reagierte nicht und zog seine Schuhe an.
„Wo willst du denn hin?“, fragte die Mutter, ehe Rafael entwischen konnte.
„Nur nach gegenüber, hab' ich doch gesagt“, nuschelte Rafael. Er wusste gar nicht, wo Lars Federball spielen wollte. Hoffentlich gehörte zu seinem Haus ein Hof. Rafael fürchtete, auch gehänselt zu werden, wenn die anderen Kinder sahen, dass er sich mit Lars abgab.
„Ich wusste gar nicht, dass gegenüber ein Junge wohnt, den du kennst“, wunderte sich seine Mutter. Aber sie fragte nicht weiter. Ihr war es immer recht, wenn Rafael nach draußen ging, weil sie der Meinung war, dass Kinder täglich an der frischen Luft spielen sollten. Also sagte sie nur, dass er seine Uhr mitnehmen solle und um sechs zu Hause sein müsse.
Als Rafael vor das Haus trat, stand Lars schon gegenüber im Eingang und wartete auf ihn. Er sah Rafael forschend in die Augen. Lars schien genau zu wissen, dass Rafael fürchtete, auch gehänselt zu werden, wenn er mit ihm zusammen war.
„Ich will nicht auf den Spielplatz“, sagte Lars, „ich zeige dir was. Aber du darfst es nicht weitersagen. Es ist mein Geheimplatz.“ Lars sah sich um, Rafael auch, aber es waren keine anderen Kinder zu sehen.
Die beiden bogen um eine Ecke, dann um noch eine und kamen schließlich an eine alte Autowerkstatt, deren Büroräume im Erdgeschoss eines Mietshauses lagen. Über einem großen Fenster und einer verschlossenen Einfahrt stand in verblassten Lettern KFZ-Werkstatt Emmerich. Der Rollladen des Fensters war herabgelassen und verstaubt, die Werkstatt offensichtlich schon lange geschlossen. Lars vergewisserte sich noch einmal, dass niemand sie beobachtete, und öffnete eine schmale Seitentür.
Die Jungen schlüpften in den feuchten, dunklen Empfangsraum, der nur durch zwei Ritzen im Rollladen erhellt wurde. Lars schloss die Tür hinter ihnen und ging voraus. Rafael stolperte über irgendetwas, das scheppernd wegrollte. Wahrscheinlich eine Büchse, dachte er.
Inzwischen war Lars am anderen Ende des Raumes angelangt und öffnete eine weitere Tür. Sie betraten einen zweiten Büroraum, dessen Fenster auf den Hof der Werkstatt hinaus gingen. Der Platz war lang gestreckt. Zwischen dem Pflaster wuchsen Grasbüschel. An einer Wand der gegenüberliegenden Werkstatthalle lehnten eine alte Motorhaube und eine Autotür. Eine Bank stand auch dort. Der Hof war windgeschützt und erschien Rafael viel wärmer als die Straße, auf der heute ein kalter Aprilwind blies. Lars blickte Rafael erwartungsvoll an.
„Ist hier wirklich keiner mehr?“, fragte Rafael vorsorglich.
Lars schüttelte den Kopf.
„Hast du die Tür vorne aufgebrochen?“, wunderte sich Rafael. Das hätte er Lars gar nicht zugetraut.
„Nein, sie war einfach offen. Es wusste nur keiner.“
„Und wie hast du es entdeckt?“
Lars schwieg und schüttelte ein bisschen den Kopf.
„Komm, lass uns auf dem Hof spielen“, schlug er vor.
Aber nun hatte Rafael erst recht keine Lust mehr, Federball zu spielen. Jetzt wollte er die Werkstatt erkunden.
„Du hast dich doch bestimmt schon hier umgesehen“, wandte er sich an Lars.
Der zuckte nur die Schultern. „Das Tor zur Werkstatthalle ist abgeschlossen. Wenn man durchs Fenster blickt, sieht alles ziemlich leer aus.“
Rafael zeigte auf die Autoteile auf dem Hof „Vielleicht haben die ja einen Schraubenschlüssel oder einen Hammer vergessen?“, fragte er aufgeregt und spähte durch das große, in viele kleine Scheiben aufgeteilte Fenster der Werkstatthalle. Zunächst sah er nur kahlen Betonboden. Nicht einmal eine verrostete Schraube lag dort. Doch ganz hinten im dunkelsten Winkel schien etwas zu stehen. Rafael legte die Hände um die Augen, um besser sehen zu können. In der Ecke deckte eine ziemlich dreckige Plane irgendetwas ab, etwas Niedriges.
Rafael winkte Lars zu, der mit seinem Schläger den Federball immer wieder in die Luft schlug. „He, Lars, da steht was!“
„Wollen wir zählen, wie viele wir schaffen?“, kam es zurück.
„Wie viele was?“
„Wie oft wir es schaffen, hin- und herzuschlagen. Einmal habe ich allein über hundert Schläge geschafft.“
„Lass den blöden Federball. Wir müssen hier rein. Ich will wissen, was dahinten steht.“
„Bei hundertsechs Schlägen habe ich freiwillig aufgehört, weil ich Kopfschmerzen bekommen hatte.“
„Lars! Hast du gehört? Da steht was!“
„Was soll da schon stehen? Für ein Auto ist es zu niedrig.“
Lars schlug weiter den Ball hoch. Zwischen zwei Schlägen drehte er sich einmal um sich selbst. Dabei taumelte er und sein linker Arm schwenkte unkontrolliert in der Luft herum. Seine langen, blonden Locken flogen wild um sein Gesicht.
Wie kann man nur solche Haare haben, dachte Rafael. Mädchenhaare, das galt unter seinen Freunden als fast so schlimm wie Mädchenschuhe. Er selbst stibitzte manchmal etwas Gel von seiner Mutter, um seine kurzen braunen Haare vom Kopf abstehen zu lassen. Dann sah er wenigstens ein bisschen so aus, wie die Kämpfer in seinen Comics.
Rafael ärgerte sich. Wie konnte Lars nur so stumpf seinen blöden Federball in die Luft schlagen, wo sich direkt neben ihm in einer Werkstatthalle eingeheimnisvoller Gegenstand unter einer Plane verbarg.
„Du bist ein Idiot. Die anderen haben Recht. Ball spielst du, als ob du besoffen bist. Egal ob mit diesem dämlichen Federball oder beim Fußball, wo du nicht mal weißt, dass man nur auf ein Tor schießen darf,“ attackierte er Lars.
Der Federball fiel mit einem leisen Klacken zu Boden und Lars' Arme sackten herab. Lars hob den Ball auf, nahm beide Schläger und sagte: „Ich hätte wissen müssen, dass du genau wie die anderen bist. Warum habe ich dir nur meinen Hof gezeigt?“
Rafael sah, dass Lars den Tränen nahe war.
Leise fügte Lars hinzu: „Aber ich kann ja den anderen erzählen, dass du beim Fußball einpullerst.“ Dann wandte er sich um und ging.
Rafael erstarrte. Es stimmte, er machte gelegentlich in die Hose. Er war sich sicher gewesen, dass das niemand bemerkt hatte. Doch offensichtlich hatte Lars es gesehen, als er auf dem Spielplatz neben dem Fußballfeld schaukelte. Mitunter hing er dort sogar bäuchlings über der Schaukel und summte eine seiner selbst erfundenen Melodien.
Rafael lief Lars nach und erwischte ihn in dem dunklen Empfangsraum. Er riss ihn herum. „Wehe, du erzählst das!“
„Nein, tu ich nicht. Mir glaubt ja sowieso keiner“, sagte Lars ängstlich. Rafael konnte zwar Lars’ Gesicht nicht erkennen, hörte jedoch die Angst in dessen Stimme. Er stieß Lars zum Ausgang. „Hau ab!“
Das hätte er besser nicht sagen sollen. Denn im nächsten Augenblick fühlte er einen schmerzhaften Schlag an der Schläfe. Lars hatte ihm die Federballschläger an den Kopf gehauen. „Das ist mein Geheimplatz, nicht deiner“, keuchte er, „du hast mir hier nichts zu befehlen!“
Rafael war überrascht. So viel Mut hätte er Lars gar nicht zugetraut. Doch er hörte Lars stoßweise atmen. Ob er wohl fürchtete, jetzt verprügelt zu werden?
Wenigstens konnte sein Gegenüber nicht sehen, dass Rafael zitterte, und das lag nicht nur an der feuchten Kälte hier drin. Prügeln konnte sich Rafael nämlich nicht gut. Er war ziemlich dünn und einen halben Kopf kleiner als Lars. Und er konnte zwar schnell rennen und trickste beim Fußball hin und wieder sogar einen der Großen aus, aber er war nicht sehr stark. Und außerdem fürchtete er sich vor Schlägen, die weh taten.
Deshalb wendete Rafael nicht besonders viel Kraft auf, als er Lars jetzt einen Schlag in den Bauch versetzte. Er entwand ihm einen der Schläger und sprang zurück. Auch Lars war zurückgewichen, sodass nun viel Platz zwischen ihnen war. Beide rührten sich nicht und froren.
Auf einmal sagte Lars: „Warum soll ich beim Fußball nicht auf das Tor spielen, das gerade in der Nähe ist und wo keiner steht?“
Rafael wusste nicht, was er darauf antworten sollte.
„Wenn alle gegeneinander spielen würden, wäre es ehrlicher“, fuhr Lars fort, „es wäre dann so wie immer, aber nur im Spiel.“
Rafael fand, dass es eigentlich ganz gut klappte auf dem Bolzplatz. Er spielte gern in Mannschaften und fühlte sich dort aufgehoben. Aber wenn man nicht mitmachen durfte wie Lars? Auch Rafael saß öfter an der Seite, wenn die Großen nicht wollten, dass er mitspielte. Er sah dann nur zu und träumte davon, ein ganz tolles Tor zu schießen. Wenn der Ball ins Aus flog, stand er brav auf und holte ihn für die anderen. Dann waren abends seine Nägel ziemlich abgekaut.
Eigentlich hatte Lars Recht. Im Grunde genommen wollte doch jeder auf dem Bolzplatz der Größte sein. Der Kampf darum war mitunter ziemlich hart, besonders, wenn die Mannschaft nicht gut zusammenhielt. In solchen Augenblicken hatte Rafael schon manchmal gedacht, dass er jetzt eigentlich lieber einfach schaukeln würde.
„Komm, sollen wir nicht doch mal gucken, was in der Werkstatt in der Ecke steht?“, schlug Rafael vor.
Lars ließ seinen Schläger sinken, den er immer noch abwehrend über den Kopf gehalten hatte. „Na gut, wenn du meinst.“
Die beiden Jungen gingen über den Hof zurück zur Werkstatthalle. Rafael untersuchte das große Eisentor. Es hatte zwei Flügel. Vielleicht konnten sie es aufdrücken. Aber die Türen waren beide fest verriegelt. Rafael schaute enttäuscht zum Fenster, vor dem Lars auf und ab hüpfte, sodass seine Locken dabei um seinen Kopf flatterten. Rafael nervte das zusätzlich.
„Das Tor kriegen wir nicht auf“, rief er. „Statt herumzuspringen könntest du lieber nachgucken, ob das Fenster auch so fest zu ist.“
Lars hörte auf zu hüpfen. „Ist es. Ich weiß aber trotzdem, wie wir da reinkommen.“
Er griff seinen Federballschläger am oberen Ende und fuchtelte mit ihm wie mit einem Schwert in der Luft herum. Dabei gab er alberne kämpferische Laute von sich. Gerade als sich Rafael abwendete und beschloss, Lars einfach hier stehen zu lassen und ihn nie wieder eines Blickes zu würdigen, klirrte es. Rafael blickte erschrocken zurück und sah Lars im Ausfallschritt erstarrt am Fenster stehen. Der Griff seines Schlägers steckte in einer zerbrochenen Scheibe.
Lars sah Rafael triumphierend an. Mit einer Bewegung, die schwungvoll wirken sollte, aber ziemlich eckig ausfiel, vergrößerte er das Loch in der Scheibe und zog den Schläger heraus. Dann langte er nach innen an den Fenstergriff, der neben dem Loch lag, und öffnete das Fenster. „Siehst du?“
Rafael blickte sich ängstlich um, ob jemand im Vorderhaus oder den Seitenflügeln das Klirren gehört hatte. Vorn blieb alles ruhig. Doch wackelte dort im linken Seitenflügel nicht eine Gardine? Rafael sah genauer hin, aber jetzt bewegte sich nichts mehr.
„Ich gehe vor“, sagte er und drehte sich wieder zu Lars um.
Doch der stand bereits in der Werkstatt und steckte grinsend seinen Kopf aus dem Fenster. Rafael blieb nichts weiter übrig, als hinterherzuklettern. Dieser Lars war ganz anders, als er bisher gedacht hatte. Einfach die Scheibe zu zerschlagen, um in die Werkstatt zu kommen – cool!
Drinnen war es heller, als es von außen den Anschein gehabt hatte. Lars hatte zwar nur eine kleine Scheibe des Sprossenfensters zerschlagen, doch die gesamte Fensterfläche war ziemlich groß. Es roch ein bisschen nach Öl, war jedoch nicht so feucht wie in den Räumen vorn im Haus. Die beiden Jungen gingen in die Ecke und hoben die Plane ein wenig an. Sie war sehr schwer, aber gemeinsam gelang es ihnen, sie ein Stück wegzuschieben.
„Krass“, entfuhr es Rafael und er zerrte weiter an der Plane. Denn er hatte entdeckt, dass hier nicht etwa nur irgendein Haufen alter Teile zugedeckt war. Eine wohlbefestigte Stoßstange und Scheinwerfer waren zum Vorschein gekommen.
„Was ist denn?“, fragte Lars, der die Stoßstange mit Stirnrunzeln betrachtete.
„Mensch, das ist ein Auto!“, rief Rafael.
Lars musterte die Plane zweifelnd. In der Mitte war sie kaum höher als vorn und hinten. „Kann nicht sein. Die Form passt überhaupt nicht. Oder es ist völlig eingedrückt“, erwiderte er.
„Stimmt, wahrscheinlich ist es ein Unfallwagen. Aufs Dach gefallen oder so“, mutmaßte Rafael enttäuscht. „Na ja, aber besser als gar nichts. Komm, schauen wir endlich nach.“
Jetzt half auch Lars wieder kräftig mit, und bald hatten sie die Plane ganz heruntergezogen. Darunter kam ein, flacher, schnittiger Sportwagen zum Vorschein, ein Cabriolet. Von außen sah es völlig heil aus, wenn auch der rote Lack ganz stumpf war und das Verdeck muffig roch. Ein paar Spinnen flüchteten unter die Räder.
Rafael schaute durch die Scheiben und wollte es kaum glauben: helle Ledersitze und ein Holzarmaturenbrett! So etwas wollte sein Vater schon immer haben. Aber sie hatten nur einen ganz gewöhnlichen Kombi. Rafael versuchte, die Fahrertür zu öffnen, aber es ging nicht. Suchend sah er sich um. Ob vielleicht irgendwo der Schlüssel war?
Während er die Wände absuchte, wobei ihm ein Holzbrett mit vielen Haken ins Auge fiel, achtete er nicht auf Lars. Doch dann nahm er dessen Kampflaute wahr und sah sich um. Lars tanzte mit seinem Federballschläger direkt vor dem Fenster der Fahrertür herum. Mit einem Schrei warf sich Rafael auf ihn. Genau in dem Moment, als Lars die Scheibe zerstoßen wollte, wurde er von Rafael zu Boden geschleudert. Rafael knallte dabei mit dem Kopf an die Karosserie und ein stechender Schmerz durchfuhr ihn.
Erst nach einem Augenblick konnte er wieder denken. Weinen drang an seine Ohren. Neben ihm saß Lars, hielt sich das Handgelenk und blickte auf seinen zerbrochenen Federballschläger. „Ausgerechnet der mit dem gelben Griff“, schluchzte er, „der war so gut.“
„Bist du verrückt?“, entfuhr es Rafael.
Lars stieß ihn wütend gegen das Auto. „Ach nee, soll ich mal ein Loch in deinen Fußball pieken?“
„Okay, tut mir Leid“, lenkte Rafael schnell ein. Er wollte nicht noch einmal mit dem Kopf ans Auto stoßen. „Weißt du überhaupt, was dieses Auto hier wert ist?“
„Nein, aber es gehört nicht uns, da ist es egal.“
„Mensch, das gehört niemandem mehr. Das haben die hier vergessen. Das ist jetzt unser Schatz!“, schrie Rafael und stieß seinerseits Lars gegen das Auto. Aber nur ganz schwach.
„Wenn die das hiergelassen haben, ist es Schrott“, meinte Lars ungerührt. „So wie jetzt mein Schläger.“
„Wenn es Schrott wäre, hätten sie nicht die Sitze dringelassen und das Lenkrad und alles. Und sie hätten es auch nicht zugedeckt. Wahrscheinlich ist der Motor kaputt.“ Rafael legte sich auf den Boden und blickte unter das Auto. „Er ist jedenfalls noch drin.“
Lars legte sich neben Rafael und guckte ebenfalls. Plötzlich griff er in der Vorderradfelge nach einem Gegenstand. „Der Schlüssel ist auch noch da.“
Er präsentierte Rafael einen roten Schlüsselanhänger aus Leder. Rafael sah sofort, dass der Schlüssel daran ein Zündschlüssel war, und wollte ihn Lars aus der Hand nehmen. Aber Lars sprang auf und hielt den Schlüssel hoch. Da er größer war als Rafael, kam der nicht dran.
„Den habe ich gefunden. Und außerdem gehört der Rennflitzer mir. Das ist mein Geheimplatz.“
„Das ist kein Rennauto, sondern ein Sportcabrio. Komm, mach jetzt auf.“
„Aber ich sitze auf dem Fahrersitz.“
„Ohne mich würdest du jetzt draußen stehen und deinen Federball in die Luft schießen.“
„Ja, mit einem heilen Schläger“, sagte Lars. Sein Arm fiel herab.
Jetzt hätte Rafael ihm mühelos den Schlüssel entreißen können, denn eigentlich wollte er gerne der Fahrer sein. Aber als er sah, wie traurig Lars seinen kaputten Schläger anblickte, ließ er es. Stattdessen grummelte er: „Schließ endlich auf, ich steige zuerst ein und rutsche durch auf den Beifahrersitz.“
Der Schlüssel passte tatsächlich. Im Auto roch es ziemlich muffig und auch ein bisschen nach Benzin. Lars schloss trotzdem die Tür hinter sich. Dafür kurbelten sie beide Seitenfenster herunter. Rafael schaute durch die Windschutzscheibe und stellte sich vor, auf einer Küstenstraße zu sein. Rechts neben ihm die Werkstattwand waren Felsen, links tat sich ein Abgrund auf, unten brodelte das Meer. Er tat so, als hätte er ein Lenkrad in der Hand und legte sich in die Kurve.
Lars sah ihm einen Augenblick zu, dann ergriff er das Lenkrad, machte Fahrgeräusche und schrie: „Nach links!“
Beide beugten sich nach links, dann rief Rafael: „Rechtskurve!“, und sie legten sich nach rechts.
„Gib Gas!“
Keiner der beiden merkte, dass sich die Fensteröffnung verdunkelt hatte.
„Scharfe Kurve!“, warnte Lars.
Rafael fiel ein: „Laster kommt entgegen. Bremsen!“
Als er mit dem Fuß die imaginäre Bremse durchdrückte, rutschte er halb vom Sitz. Auch Lars fand sich halb liegend wieder. Die beiden kicherten.
„Vielleicht lenken die Herren ihre Blicke einmal Richtung Fenster“, hörten sie plötzlich eine tiefe Stimme.
Cecilie Dressler Verlag, Hamburg 2005
© Ulla Mothes
Und je tiefer sie kam, desto gleißender wurde der Himmel, und das war noch nie so gewesen.
[ Seiltänzerin mittendrin ]
Hamburg, 2005
Cecilie Dressler Verlag
ISBN: 3-7915-1261-7
Eigentlich will Rafael mit Lars gar nichts zu tun haben. Aber dann zeigt Lars ihm seinen Geheimplatz: eine verlassene Autowerkstatt, in der ein wunderschöner, alter roter Sportwagen steht.
Rafael macht gemeinsam mit Lars und der »Strickjackenoma« Liselotte das Auto wieder flott. Liselotte will sogar fahren lernen, damit die drei sich ihren Traum einer sommerlichen Landpartie erfüllen können.
Doch es gibt noch andere, die sich für das Auto interessieren. Und eines Tages, als Rafael und Lars zur Werkstatt kommen, ist das Auto verschwunden!
Ausgezeichnet mit dem WHITE RAVEN 2005.
Ulla Mothes